Wissenswertes aus der Hundewelt
Kürzlich wurde irgendwie und irgendwo über die vermeintlich perfekten Hunde von Hundetrainern diskutiert. Beziehungsweise über die Häme, die einem Hundetrainer teilweise entgegenschlug, weil ihm sein Hund entlaufen war. Das wirkte insgesamt für mich sehr befremdlich, weil meine Gedanken bei so etwas immer direkt beim Hund sind – und auch beim Hundehalter, der in diesem Fall zufällig ein Trainer ist. Man muss mit dem Trainer ja nicht einer Meinung in Hundefragen sein, das kann man aber anders artikulieren und diskutieren. Hier hoffe ich, dass der Hund schnell und wohlauf gefunden wird. Punkt.
Aber mal zurück zu der Frage, ob Hundetrainer generell perfekte Hunde haben sollten. Nun, das ist eine interessante Frage, vor allem weil sie mich nicht wirklich betrifft. Zum einen, weil ich kein Hundetrainer, sondern Hundepsychologe bin ;-)
Die perfekten Hunde – aus ihrer Sicht
Aber auch, weil ich perfekte Hunde habe. Naja, das denken die Hunde zumindest. Da ist zum einen meine Samojedin Koka, die es perfekt beherrscht, das, was ich sage, zu ignorieren. Samojeden sind nicht mit einem eng gefassten Zuchtziel selektiert worden. Sie lebten und leben bei dem Rentierzüchtervolk der Samojeden in der sibirischen Taiga. Ohne enges Zuchtziel leben die Hunde dort sehr selbstständig und tragen das bis in die moderne Welt hinein.
Die Mittelkralle der Samojeden
Man könnte es so zusammenfassen und erklären: Es gibt Hunderassen, die vom Grundcharakter so selektiert wurden, dass sie auf „Kommando“ einen Abhang hinunter springen würden. Ein Samojede würde in solch einer Situation die Mittelkralle in Richtung des Kommandogebers recken und diesem mit verärgerten Blicken deutlich mitteilen, dass er selbst springen solle. Samojeden sind, vermenschlichend und verhaltensbiologisch komplett falsch ausgedrückt, einfach „Dickköppe“. Selbstständig und zu nichts zu zwingen. Und komm mir auch keiner damit, dass man nach behavioristischer Lerntheorie jeden Hund zu jedem Verhalten konditionieren könne. Wer das sagt, hat noch nie einen Samojeden gekannt. Es sind fast immer freundliche Hunde, die man aber schlicht nicht zu allem überreden kann. So ist meine Koka also eine perfekte Samojedin, aber bestimmt kein perfekt „funktionierender“ Hund, der heute von der Gesellschaft verlangt wird. Die Freundlichkeit gegenüber Menschen ist bei ihr stark ausgeprägt, gegenüber Hunden ist ihre Freundlichkeit sehr selektiv. Und wenn sie einen nicht mag, dann bekommt das auch jeder mit – im weiten, hörbaren Umfeld. Und wenn ein Samojede der Meinung ist, sich für einen Ausflug länger zu verabschieden, dann macht ein Samojede das. Aber keine Sorge, pünktlich zum Abendessen ist er wieder daheim ;-)
Perfekt für mich
Also, meine Samojedin Koka ist sicher der Meinung, dass sie perfekt ist. Und da ich selbstständige Lebewesen mag, ist sie auch für mich perfekt. Zudem achte ich darauf, dass sie niemanden belästigt und / oder gefährdet. Was dann andere über ihre vermeintliche notwendige Perfektion in unserer heutigen Zeit denken, ist mir relativ wurscht.
Die Tinnituströte
Achja, und dann habe ich noch Regaliz. Die Rasse ist nicht wirklich bekannt, es ist aber zu vermuten, dass er zu diesen kleinen, lebenden Alarmanlagen spanischer Fincas gehört. Laut Gentest war in grauer Vorzeit irgendwie auch einmal ein Zwergpudel beteiligt. Allerdings ist die einzige Gemeinsamkeit mit dieser Hunderasse das „Zwerg“. Und auch Regaliz ist seiner persönlichen Meinung nach perfekt. Er versucht immer seinem Umfeld in lautesten Tönen mitzuteilen, wenn irgendetwas, aus seiner Sicht nicht in Ordnung ist. Wenn er sich bei mir auf dem Sofa aalt und im Nachbarort ein Hund vor die Tür tritt, bellt er in höchsten Tönen los, um den Feind vorzuwarnen, nicht in unsere Nähe zu kommen. Das kommt meist so plötzlich und in wirklich so hohen Tönen, dass mir noch Minuten später die Ohren klingeln. Ich habe beim VDH schon einen Antrag gestellt, ihn als eigene Rasse eintragen zu lassen. Als Tinituströte. Und diesem Namen wird er perfekt gerecht…
Perfkte Samojedin, perfekte Alarmanlage
Wie man also sieht, sind meine Hunde perfekt. Koka ist perfekt darin – eine Samojedin zu sein…
Und Regaliz (Regi) ist die perfekte Alarmanlage mit Tinnitusgarantie. Das mag nicht für jedermann der Vorstellung eines perfekten Hundes entsprechen. Aber, wie gesagt, das juckt mich nicht – ich habe dafür zu sorgen, dass sich meine Hunde wohlfühlen und dass sie niemanden belästigen oder gefährden. Wenn ich es allen Menschen gerecht machen wollte, würde ich vermutlich eines Tages psychologischen Beistand benötigen.
Meine Hunde halten sich selbst für perfekt, für mich sind sie perfekt weil sie genau so, wie sie sind, zu mir passen. Und das Tinnituströten des Zwergs ist nur punktuell, so dass er damit nicht die „erlaubten 30 Minuten pro Tag“ überschreitet ;-)
Wenn die perfekten Leckerchen fliegen
Im Grunde alles perfekt, wenn man geschwätzige Perfektionisten nicht zu ernst nimmt, und sein Leben und das Leben seiner Vierbeiner so gestaltet, dass sich alle so wohl wie möglich fühlen.
Und wer den vollkommen perfekten Hund hat, der nicht bellt, der nicht Jagd, der gar keine Individualität hat. Der werfe das erste Leckerchen. Ich bin mir sicher, dass viele unperfekte Hunde diese perfekt schnappen würden…
Thomas Riepe
Mittwoch, 2. März 2016
Ich wurde kürzlich von einer Schülerin gebeten, Fragen zu ihrer Maturarbeit in Interviewform zu beantworten. Ich habe das gerne gemacht. Weil darunter wichtige Fragen mit Aufklärungscharakter waren. Zwei davon möchte ich hier gern einmal mit meinen Antworten veröffentlichen:
Frage zum Spieltrieb:
Die Polizei behauptet, dass das Schutzhundetraining von den angehenden Polizeihunden als Spiel aufgefasst wird. Es sei ihr Spieltrieb, der sie dazu animiere, den Schutzdiensthelfer zu attackieren. Kann es sich dabei tatsächlich nur um den Spieltrieb handeln?
Erst einmal gibt es so etwas wie einen Spieltrieb nicht. Man spricht korrekt von Spielverhalten. Das Spielverhalten ist ein angeborenes Verhaltensmuster, welches dazu dient, lebenswichtige Verhaltensweisen zu üben. Meist machen das nur juvenile Lebewesen, „Kinder“. Auch erwachsene Individuen können es ggf. zeigen, das kommt aber unter natürlich lebenden Hunden selten vor. Beim Schutzhundetraining wird auch nur selten Spielverhalten gezeigt. Dort handelt es sich um Sequenzen des Jagdverhaltens, was auch ein angeborenes Verhaltensmuster ist. Das Jagdverhalten ist ebenfalls kein Trieb. Ein Trieb, so es ihn denn geben würde, käme ja von innen, ein innerer Antrieb. In der Realität ist es aber so, dass Jagdverhalten nur gezeigt wird, wenn ein äußerer Reiz ihn auslöst (flüchtendes Beutetier z. B.). Wenn man Jagdverhalten als erwachsenes Tier „zum Spaß“ oder aus innerem Antrieb zeigen würde, wäre das Energieverschwendung. Das macht die Natur nicht. Bei Schutzhundetraining wird immer wieder durch Reizaussendung das Jagdverhalten ausgelöst – das hat nichts mit Spieltrieb zu tun. Der Begriff wird wohl eher benutzt, und Schutzhundeausbildungen zu verharmlosen…
Frage zum Beutetrieb:
Die Ausbildung des Suchhundes baut auf dessen Beute- und Spieltrieb. Woher stammt dieser? Hat er sich aus dem Jagdtrieb entwickelt?
Wie schon erwähnt. Triebe in der Form gibt es nicht, die Triebtheorien gelten schon seit den 1990er Jahren als widerlegt. Erstaunlich, dass man immer noch davon hört. Es gibt ein Spielverhalten und ein Jagd- oder Beutefangverhalten. Und Suchhunde zeigen beim Suchen auch Sequenzen des Beutefangverhaltens. Die Arbeit über die Nase, das Suchen ist aber ein normales Verhalten, welches man durchaus nutzen kann, ohne dem Tier zu schaden. Im Gegenteil, gut angewendet ist es sogar eine gute, natürliche Beschäftigung. Die aber nichts mit Spielen zu tun hat…
Hier noch ein Eigenzitat aus einem anderen Text von mir zur so genannten Triebtheorie:
>>> Triebe sind Teil der Instinktheorie von Konrad Lorenz. Lorenz ging davon aus, dass ständig eine „aktionsspezifische Energie“, eine „Triebenergie“ im Tier aktiv, bzw. präsent wäre. Diese Triebenergie sollte praktisch immer zur Verfügung stehen, wenn der dazugehörige Trieb ausgelebt werden müsse. Fliehen, jagen oder paaren. Wenn es jedoch zu keiner Endhandlung komme (kein Feindkontakt, keine Beute oder keine Geschlechtspartner) würden diese Treibenergien immer mehr und sich irgendwann aufstauen – so weit, dass sie sich irgendwann irgendwie entladen müssten. Durch Unruhe, sinnlose Handlungen etc. Zusätzlich würde der „Schwellenwert“ heruntergesetzt, das Tier würde schneller und öfter auf Reize stark reagieren. Klingt immer noch schlüssig, allerdings sollte man an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass Konrad Lorenz die Theorie aufgrund seiner Interpretation von wenigen, für ihn seltsamen Handlungen einiger Tiere aufstellte. Wissenschaftlich nachgewiesen und mit empirischen Daten unterlegt hat er die Theorie nie. Trotzdem wird sie bis heute oft unreflektiert als Grundlage im Umgang mit Hunden genutzt.
Auch wenn die Theorie logisch klingen mag, wer sich aber genauer mit der Natur beschäftigt, und vor allem mit den Überlebensstrategien von Wildtieren in ihrem natürlichen Umfeld, sollte bei der Theorie eigentlich ins Grübeln kommen. Und sich die ganz wichtige Frage stellen, die eigentlich für jedes Wildtier eine existentielle Bedeutung hat. Die Frage der Energieeffizienz. Die Evolution hat es so eingerichtet, dass jedes Lebewesen die ihm zu Verfügung stehenden Energien (die ihn „am Laufen“ halten) sehr effizient und vor allem sparsam einsetzt. Weil Energie, weil Nahrung nicht immer im Übermaß zur Verfügung steht. Wenn jetzt also ständig eine Triebenergie fließen würde, von der der Körper nicht weiß, wann er sie gezielt einsetzen kann, wäre das recht unökonomisch.
Zur Erinnerung: Es ist vielmehr so, dass z. B. Beutefangverhalten ein angeborenes Verhalten ist, welches nur abgerufen wird, wenn ein äußerer Reiz es „anfordert“. Und die Energie dafür zielgerichtet verwendet wird. Es ist kein innerer „Trieb“, der ausgelebt werden muss. Jagdhunde, die fälschlich als „triebig“ bezeichnet werden, haben nur eine niedrigere Reizschwelle. Das Jagdverhalten wird schneller ausgelöst. Von außen – nicht von innen.
Dem Hund das Erwachsensein vorenthalten. Ist das in Ordnung?
Infantile Menschen
Ein Mensch wird NICHT erwachsen, wenn er nicht die Möglichkeit hat, erwachsen zu werden – oder ihm die Möglichkeit genommen wird. Wenn man ihm nie etwas zutraut, wenn man ihm nie erlaubt selbständige Handlungen auszuführen und dabei seinen eigenen Verstand, sein eigenes Verständnis für seine Umwelt, zu nutzen. Wenn man einem Menschen verwehrt, selbständig Aufgaben und Pflichten zu erledigen, wenn man ihm „alles abnimmt und/oder vorgibt", und wenn man ihm keinerlei Verantwortung überträgt. Auch, wenn man einem Menschen nicht erlaubt, sein Leben selbstständig zu ordnen und zu strukturieren, dann wird der Mensch nicht erwachsen. Kurzum, wenn man einem Menschen auf dem Weg zum erwachsen werden alles abnimmt, ihm jegliche Selbstständigkeit und Freiheit abspricht – dann wird ein Mensch nicht erwachsen. Er wird infantil. Infantile Menschen verhalten sich wie Kinder oder Pubertierende, auch wenn sie biologisch längst erwachsen sind. Infantile haben Probleme mit den Realitäten des Lebens, sind sehr oft ängstlich, weil sie nie gelernt haben, Probleme selbstständig zu lösen oder Realitäten als gegeben anzunehmen. Infantile haben große Probleme damit, ihr Leben zu strukturieren und auch damit, vorgegebene Strukturen anzuerkennen, wenn sie dem eigenen Vorteil dienen. Angst, Unsicherheit und eine übertriebene Abhängigkeit gegenüber Bezugspersonen sind eine unangenehme Folge der Infantilität. Aufgrund der Ängste und Unsicherheiten, aufgrund des mangelnden Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins, können bei infantilen Menschen zum Beispiel Depressionen entstehen. Man sieht also, wenn ein Mensch nicht erwachsen werden kann und/oder darf, ist das für ihn sehr unangenehm. Nicht nur, dass er ohne Hilfe nicht Lebensfähig wäre – die Defizite in seinem Verhalten beeinträchtigen seine Lebensqualität hochgradig negativ...
Infantile Hunde
Warum spreche ich an dieser Stelle von infantilen Menschen und deren Problemen, wo dies doch eigentlich ein BLOG über Hunde ist? Nun, vielleicht wird das etwas klarer, wenn ich mich selbst zitiere, bzw. einen anderen Artikel dieses BLOGS.
Vom Recht, erwachsen sein zu dürfen
Frei entscheiden heißt nicht, unerzogen zu sein
„Normales" Hundeleben, normale Entwicklung simulieren
Anregung zum Nachdenken, keine pauschale Philosophie
Die Kastration beim Hund - Ein Paradigmenwechsel
16.10.2014
Von Ralph Rückert, Tierarzt
Ich gehöre zu einer Generation von Tierärzten, der beigebracht wurde, eher beiläufig und ohne großes Nachdenken alles zu kastrieren, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Für einige Tierarten ist das auch nach wie vor der einzig gangbare Weg. Katzen beiderlei Geschlechts werden nun einmal erst durch die Kastration zu Haustieren. Auch Kaninchen und einige Nager können unkastriert eigentlich nicht artgerecht gehalten werden. Beim Hund waren wir aber bezüglich der Kastration nie in einer echten Zwangslage. Man kann mit entsprechendem Aufwand selbstverständlich intakte Rüden und Hündinnen völlig artgerecht halten. Andere Gründe waren ausschlaggebend: Die Prophylaxe verschiedener Erkrankungen, verhaltensmedizinische Probleme und die generelle Erleichterung der Haltung für den Besitzer. Den Vorteil der Unfruchtbarmachung hat man eher nebenbei mitgenommen. Wir lebten in der Überzeugung, dass wir den Hunden auf jeden Fall etwas Gutes tun. Diesbezüglich wird uns aber nun gerade der Teppich unter den Füßen weggezogen! Wenn Sie es irgendwo laut krachen hören, könnte das der Aufprall unseres kollektiven tiermedizinischen Hinterns auf dem Boden sein.
Es ist nicht so, dass ich nicht schon seit einigen Jahren die Glocken hätte läuten hören. Immer wieder kamen Studien heraus, die den Verdacht nährten, dass die Nebenwirkungen der Kastration des Hundes bei beiden Geschlechtern weit über das hinausgingen, was wir bisher für gegeben erachtet hatten. Es handelte sich aber erstmal nur um einzelne Veröffentlichungen, die teilweise auch gleich wieder mit Gegenstudien angegriffen wurden. Nun sind aber erste sogenannte Metaanalysen im Umlauf, also Arbeiten, die die Ergebnisse mehrerer Studien zu einem Thema zusammenfassen. Auch deren Folgerungen sind nach wie vor beileibe nicht unumstritten, aber es zeichnet sich doch ein klarer Trend ab, auf den ich als Praktiker an der Front reagieren muss.
Prof. Dr. Börne aus dem Münsteraner Tatort-Team sagte in der letzten Folge sinngemäß: Feste Überzeugungen sind was für schlechte Ärzte, Heilpraktiker und Taxifahrer! Er hat auf jeden Fall damit recht, dass gute Mediziner sich immer darüber im Klaren sein müssen, dass die Medizin eine Wissenschaft ist und dass die Wissenschaft nicht stillsteht. Das kann manchmal, so erschreckend das sowohl für Arzt als auch Patienten sein mag, zu einem recht abrupt wirkenden Kurswechsel führen. Und genau so etwas kündigt sich jetzt bezüglich der Hundekastration an.der Markteinführung des Suprelorin-Implantates, das einen Rüden für eine bestimmte Zeit hormonell und reversibel - sozusagen auf Probe - kastriert, auch in Bezug auf diese Operation sehr zurückhaltend geworden.
Insgesamt kann man sagen, dass wir bei beiden Geschlechtern bis vor einiger Zeit der Ansicht waren, dass die Vorteile die Nachteile eher überwiegen. Wir haben diesen Standpunkt nicht nur vertreten, sondern durchaus selbst befolgt. Unsere Ridgeback-Hündin Nandi, die vor vier Jahren gestorben ist, war kastriert. Laurin, der jetzt zehn Jahre alte Rüde unserer Tochter, ist ebenfalls kastriert. Unser jetziger Hund, der vier Jahre alte Terrier-Rüde Nogger, ist es dagegen nicht. Was hat sich geändert? Ich muss dazu etwas weiter ausholen, bitte halten Sie durch!
Ich behaupte, dass die Tiermedizin als Wissenschaft sich zu lange auf sehr alten Studien zu dieser Thematik ausgeruht hat. Viele der Daten, mit denen wir argumentiert haben, stammen aus den Siebziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In letzter Zeit aber setzt sich in der medizinischen Wissenschaft ein neues Denken durch, die sogenannte Evidenzbasiertheit, was (vereinfacht) bedeutet, dass sich möglichst jede medizinische Vorgehensweise auf tatsächlich beweisbare Fakten stützen sollte. Dementsprechend wird momentan alles in Frage gestellt, was immer schon als Tatsache galt, aber nie so richtig bewiesen wurde. So wuchs auch der Drang der Forscher, das alte Thema der Kastration erneut aufzugreifen. Wie weiter oben schon erwähnt: Zuerst waren es einzelne und stark in Zweifel gezogene Studien, die zur Veröffentlichung kamen und noch keinen echten Anlass für einen Kurswechsel darstellten. Inzwischen verdichtet sich die Datenlage aber derart, dass man sie nicht mehr ignorieren kann.
Was ist jetzt das Problem, fragen Sie? Das Hauptproblem, mit einem Wort ausgedrückt, ist Krebs! Mit der Kastration wird einerseits das Auftreten bestimmter Tumore verhindert, andererseits aber steigt das Risiko für andere Krebsarten, und zwar wahrscheinlich so deutlich, dass das gesamte bisherige Kastrationskonzept in Frage gestellt wird. Einer der wichtigsten Grundsätze der Medizin lautet: Nihil nocere! Niemals schaden! Für mich sieht es inzwischen fast so aus, als ob man einen Hund nicht mehr ohne strengste Indikationsstellung kastrieren könnte, ohne diesen Grundsatz zu verletzen.
Eine der umfassendsten und bezüglich der Fallzahlen beeindruckendsten Arbeiten zu dem Thema ist für mich "Evaluation of the risk and age of onset of cancer and behavioral disorders in gonadectomized Vizslas (Risiko und Erkrankungsbeginn von Krebs und Verhaltensstörungen bei kastrierten Vizslas)". In dieser im Februar diesen Jahres im angesehenen Journal of the American Veterinary Medical Association veröffentlichten Studie greift die Kollegin Christine Zink auf die Daten von 2505 (!) ungarischen Vorstehhunden (Magyar Vizsla) zurück. Es macht im Rahmen eines Blog-Artikels wie diesem keinen Sinn, detailliert auf Kollegin Zinks Ergebnisse einzugehen, aber alles in allem muss man feststellen, dass kastrierte Tiere beiderlei Geschlechts ein teilweise um ein Mehrfaches erhöhtes Risiko aufwiesen, an bestimmten Krebsarten (Mastzelltumore, Hämangiosarkom, Lymphosarkom) zu erkranken, und das auch noch zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als intakte Artgenossen. Auch bestimmte Verhaltensstörungen, vor allem die Angst vor Gewittern, kamen bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vor. Andere Studien belegen, dass das Risiko für die Entwicklung eines Osteosarkoms (Knochenkrebs) für kastrierte Hunde um das drei- bis vierfache erhöht ist. Selbst die Datenlage zur Verhinderung von Gesäugetumoren durch die Kastration steht unter Beschuss. Und bösartige Prostatatumoren beim Rüden treten bei Kastraten nicht seltener, sondern häufiger auf!
Insgesamt wird die erhöhte Anfälligkeit für Tumorerkrankungen aktuell mit einer durch den Wegfall der Geschlechtshormone zusammenhängenden Beeinträchtigung des Immunsystems in Zusammenhang gebracht. Dafür spricht auch, dass bei kastrierten Hunden offenbar sogar eine höhere Infektanfälligkeit nachzuweisen ist.
Besonders bedrückend ist für mich, dass eine Kastration fast sicher das Auftreten von Hämangiosarkomen, den berüchtigten Milztumoren, fördert. Ich bin auf diese Erkrankung in einem früheren Blogartikel schon einmal eingegangen. Mit dieser extrem bösartigen und gefährlichen Tumorart haben wir es bei älteren Hunden andauernd zu tun. Unsere Nandi wurde aufgrund metastasierter Milztumore eingeschläfert. Die Vorstellung, dass wir diese fiese Krankheit durch Kastration auch noch gefördert haben sollen, finde ich einfach schrecklich. Meine amerikanische Kollegin und Krebsspezialistin Alice Villalobos findet dafür einen sehr passenden Ausdruck: Earth shattering!
Damit leider nicht genug: Auch verschiedene orthopädische Probleme werden inzwischen mit der Kastration in Verbindung gebracht. Bezüglich Kreuzbandrissen scheint es bereits unumstritten festzustehen, dass diese Verletzung bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vorkommt. Es gibt aber auch Hinweise, dass sogar Hüftgelenkarthrosen bei Kastraten früher und schlimmer auftreten. Letzteres scheint aber noch nicht wirklich sicher. Ziemlich klar dagegen ist der Zusammenhang zwischen der Kastration und der häufigsten endokrinologischen Störung des älteren Hundes, der Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose).
Nachdem, wie schon erwähnt, momentan alles in Frage gestellt wird, was bisher galt, könnte man noch einige Punkte mehr aufführen, aber das bringt uns an dieser Stelle nicht weiter. Wenn wir den Grundsatz, niemals schaden zu wollen, ernst nehmen, ist es hier und jetzt Zeit für einen Kurswechsel. Wir können beim Hund nicht mehr guten Gewissens einfach so im Vorbeigehen kastrieren! Selbstverständlich wird es nach wie vor Hunde geben, die nach sorgfältigster Abwägung der individuellen Umstände trotzdem kastriert werden. Da mögen bestimmte Haltungsbedingungen (Hündin und Rüde im gleichen Haushalt) vorliegen oder gute medizinische Gründe (Perianaltumore oder eine Perinealhernie beim Rüden, chronische oder akute Gebärmuttererkrankungen bei der Hündin), die einfach keine andere Wahl lassen. Von solchen klaren Indikationen aber abgesehen werden wir in Zukunft mit Kastrationen in unserer Praxis noch zurückhaltender sein als wir es in den letzten Jahren sowieso schon waren.
Ach ja, ein letzter Punkt vielleicht noch: In letzter Zeit scheint es sich zu häufen, dass Hundetrainerinnen und Hundetrainer es sich zutrauen, speziell bei Rüden eine Kastrationsindikation zu stellen, um Erziehung und Handling zu erleichtern. Die Besitzer treten dann an uns heran mit der Bitte, den Hund zu kastrieren, weil es die Trainerin oder der Trainer so angeraten habe. Davon kann unter Berücksichtigung der erläuterten Faktenlage natürlich gar keine Rede sein! Eine sich eventuell etwas schwieriger als erwartet gestaltende Erziehung stellt zumindest in unserer Praxis keine ausreichende Begründung für diesen Eingriff dar.
Ich könnte ich mir gut vorstellen, dass Besitzer von Hunden, die irgendwann in unserer Praxis kastriert wurden, jetzt darüber unglücklich oder gar auf uns sauer sind. Das ist einerseits auf der emotionalen Ebene ein Stück weit nachvollziehbar, andererseits kann ich den Vorwurf nur an die in der Forschung arbeitenden Stellen weitergeben. Ich bin als Praktiker von der Forschung und ihren Erkenntnissen abhängig und beileibe nicht glücklich, dass man sich bezüglich dieses Themas gute dreißig Jahre auf alten Lorbeeren ausgeruht hat. Davon abgesehen: Bitte keine Panik, dazu gibt es absolut keinen Anlass. Wenn wir beispielsweise bei einer
bestimmten Tumorart von einer Verdreifachung des Risikos sprechen, klingt das im ersten Moment wirklich übel. Wenn man sich aber klar macht, dass diese Tumorart an sich nur eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeuten die aus einer Verdreifachung des Risikos resultierenden 4,5 Prozent immer noch, dass ein ganz bestimmter Hund diesen Tumor zu 95,5 Prozent NICHT bekommen wird.
Viele, nicht zuletzt Kolleginnen und Kollegen, werden einwenden, dass ein solcher Kurswechsel langfristig auch wieder bestimmte Konsequenzen haben wird. Stimmt! Wir werden bei intakten Hündinnen eventuell wieder öfter Gesäugetumoren und ganz sicher wieder mehr Gebärmutter-Vereiterungen (Pyometren) sehen. Aber auch das ist eben eine Sache der Risikoabwägung. Ein gut aufgeklärter Besitzer wird sowohl ein Gebärmutter-Problem als auch einen Gesäugetumor frühzeitig erkennen und entsprechend beim Tierarzt vorstellen. Die Chancen einer frühen und erfolgreichen chirurgischen Intervention sind dann ganz entschieden besser als bei einem Hämangiosarkom der Milz oder gar einem Lympho- oder Osteosarkom.
Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich mit dieser für meine Praxis geltenden Positionsfestlegung in das sprichwörtliche Wespennest steche, und zwar gleichermaßen bei Hundebesitzern und bei Tierärzten. Sicherlich wird es viele Praxen geben, die bereits einen vergleichbaren Standpunkt eingenommen haben, dies aber nicht per Blog-Artikel öffentlich machen. Andere Kolleginnen und Kollegen werden meine Einlassungen als viel zu vorschnell verurteilen und nach immer noch beweiskräftigeren Studien rufen. Mir geht es um zwei Punkte: In erster Linie möchte ich mit diesem Artikel meine Kunden darüber informieren, dass sich etwas Grundlegendes geändert hat. Darüber hinaus würde ich ungern erleben, dass wir, wie damals bei der Verlängerung der Impfintervalle, eine neue Entwicklung komplett verpennen, um dann 5 bis 10 Jahre hinter den Amerikanern her zu hinken.
Sobald sich der Staub etwas gelegt hat (was noch einige Zeit dauern kann), werden wir für unsere Kunden ein Aufklärungsformular verfassen, in dem alle bis zu diesem Zeitpunkt als gesichert geltenden Fakten aufgeführt sind.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
Ralph Rückert
Tierarzt
Bei den Quellen 16
89077 Ulm/Söflingen
Telefon: 0731/382766
Notrufnummer: 0171/744 92 46
Dominanz als Erklärung für Hundeverhalten ist ein „alter Hut"
Pressemitteilung vom 21. Mai 2009
Mit freundlicher Genehmigung: Joanne Fryer
University of Bristol, Senate House, Tyndall Ave., Bristol BS8 1TH, UK
Übersetzung: Monika Gutmann, www.modern-dogs.de
Artikel im „Journal of Veterinary Behavior“: Clinical Applications and Behavior
Eine aktuelle Studie belegt, wie das Verhalten von Hunden über Generationen missverstanden wurde: tatsächlich ist der Gebrauch von falschen Ideen bei Hundeverhalten und –training eher dazu angetan, unangemessenes Verhalten hervorzurufen, statt es zu therapieren. Die Ergebnisse stellen viele der dominanzbezogenen Interpretationen von Verhalten und Trainingstechniken, die von Fernseh-Hundetrainern empfohlen werden, in Frage.
Entgegen dem verbreiteten Glauben, versuchen aggressive Hunde NICHT ihre Dominanz / Herrschaft über ihre Artgenossen oder ihr menschliches „Rudel“ zu erlangen. Dies haben Forschungen der Abteilung „Clinical Veterinary Science“ der „University of Bristol“ ergeben.
Im „Dogs Trust“ Tierheim wurden sechs Monate lang Hunde in ihrem freien Umgang mit Artgenossen beobachtet. Zusätzlich wurden Daten von frei lebenden Hunde anaylisiert, bevor daraus geschlossen werden konnte, dass Beziehungen zwischen Hunden durch Erfahrung erlernt und nicht durch den Anspruch auf Dominanz motiviert wurden.
Die Veröffentlichung „Dominance in domestic dogs – useful construct or bad habit?“ (Dominanz bei Haushunden – nützliches Modell oder schlechte Angewohnheit?) deckt auf, dass Hunde nicht davon motiviert sind, ihren Platz in der Rangordnung ihres Rudels zu behaupten, wie viele bekannte Hundetrainer das predigen.
Trainingstechniken, die als „Rangreduktion“ bekannt sind, sind nicht hilfreich, so die Wissenschaftler, sie variieren von wirkungsloser Behandlung bis gefährlich und verschlimmern das Verhalten noch mehr.
Dem Hundehalter zu erklären, dass es wichtig ist, vor dem Hund zu essen oder durch Türen zu gehen, haben keinen Einfluss auf die allgemeine Empfindung der Hund-Halter Beziehung. Besser ist es, dem Hund in den speziellen Situationen das richtige Verhalten beizubringen. Schlimmer noch, solche Techniken, wie den Hund auf den Rücken zu werfen und festzuhalten, an den Lefzen zu ziehen oder Gegenstände nach dem Hund zu werfen, machen den Hund ängstlich – oft gegenüber dem Besitzer – und führt unter Umständen zu einer Eskalation der Aggression.
Dr. Rachel Casey, Leiterin der Abteilung „Companion Animal Behaviour and Welfare“ der Bristol University, sagt: „ Die pauschale Annahme, dass jeder Hund durch ein inneres Verlangen zur Kontrolle von Menschen oder Hunden getrieben wird, ist, offen gesagt, lächerlich. Dies unterschätzt in großem Maße die komplexen kommunikativen Fähigkeiten und Lernbereitschaft von Hunden. Diese Annahme führt ebenso zu aversiven Trainingstechniken, was den tierschutzrelevant ist und aktuelle Verhaltensprobleme auslöst.“
„In unserer tierärztlichen Sprechstunde sehen wir häufig Hunde, die gelernt haben, Aggression zu zeigen, um so voraussichtliche Bestrafung zu vermeiden. Die Hundehalter sind oft schockiert, wenn wir ihnen erklären, dass sich ihre Hunde vor ihnen fürchten und sie aggressiv sind, wegen der aversiven Trainingstechniken. Das ist allerdings nicht ihr Fehler, sondern weil sie z. B. von unqualifizierten „Hundepsychologen“ beraten und angeleitet wurden, diese Techniken anzuwenden.“
Im größten Tierheimverbund „Dogs Trust“, sehen die Mitarbeiter die Ergebnisse dieser „fehlgeleiteten“ Trainingstechniken jeden Tag. Der tierärztliche Direktor, Chris Laurence MBE, erklärt: „Wir sehen sofort, wenn ein Hund zu uns kommt, ob er mit einem, vom geliebten Fernseh-Hundetrainer empfohlenen „Rangreduktionsprogramm“ trainiert wurde. Die Hunde können sehr ängstlich sein, was sich dann in Aggression gegenüber Menschen äußert.
Traurigerweise sind die Methoden im Training, um dem Hund zu zeigen, dass der Mensch der Rudelführer ist, sehr kontraproduktiv. Der Hundehalter wird deshalb keinen besser erzogenen Hund bekommen, aber dafür einen ängstlichen Hund, der sein natürliches Verhalten unterdrückt: Er macht entweder gar nichts mehr oder reagiert so aggressiv, dass es für seine Umwelt gefährlich ist.“
http://www.bristol.ac.uk/news/2009/6361.html
Quelle:
Veröffentlichung: Dominance in domestic dogs – useful construct or bad habit? Von John W. S. Bradshaw, Emily J. Blackwell, Rachel A. Casey. Journal of Veterinary Behavior: Clinical Applications and Research, Volume 4, Issue 3, Seiten 109 – 144 (May-June 2009). Die Wissenschaftler bedanken sich bei Claire Cooke und Nicola Robertson für die Genehmigung, ihre Studie über frei interagierenden Hunde zu beschreiben, Dogs Trust für den Zugang zu einer Hundegruppe. Dankg für die Unterstützung für wissenschaftliche Berichte von Waltham Centre for Pet Nutrition, RSPCA und Cats Protection.